Durch die steigende Lebenserwartung wird Multimorbidität im Alter ein immer akuteres Thema im Gesundheitssystem. 1950 lag die Lebenserwartung in Deutschland für beide Geschlechter bei knapp 67 Jahren. Heute sind es statistisch betrachtet für Männer 78 und für Frauen sogar 83 Jahre. Ab dem 65. Lebensjahr steigt das Risiko für das Vorliegen mehrerer Erkrankungen, worunter die Lebensqualität erheblich eingeschränkt werden kann. Und auch in der Pflege ergeben sich komplexe Herausforderungen, die wir in diesem Beitrag kompakt beleuchten werden.
Das Wichtigste in Kürze
• Liegen mindestens zwei chronische Erkrankungen vor, ist von (chronischer) Morbidität die Rede.
• Für Betroffene geht es um den Erhalt von Lebensqualität – Ärzte und Pflegekräfte brauchen eine ganzheitliche Sichtweise für die gezielte Behandlung.
• Bislang gibt es kaum Erkenntnisse über Multimorbidität. Grund ist, dass Betroffene in klinischen Studien nicht berücksichtigt werden.
• In einer alternden Gesellschaft darf dieses wichtige Thema nicht als Einzelfall betrachtet werden: In Zukunft wird es in der Pflege die Regel sein.
• 2017 hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin eine Leitlinie für Multimorbidität vorgestellt.
Definition: Was ist Multimorbidität?
Von Multimorbidität ist die Rede, wenn gleichzeitig mindestens zwei chronische Erkrankungen vorliegen. Keine der Krankheiten muss dabei eine zentrale Bedeutung haben. Das ist der Fall, wenn Strategien zur Behandlung der vorliegenden Erkrankungen als gleichrangig anzusehen sind.
Teils bestehen Zusammenhänge und daraus resultierende Folgeerkrankungen. Es ist beispielsweise bekannt, dass von Diabetes ein höheres Risiko für Nierenerkrankungen oder Bluthochdruck ausgeht. Sehschwäche und Gelenkarthrose dagegen können völlig unabhängig voneinander bestehen. In diesem Zusammenhang ist von geriartrietypischer Multimorbidität als Definition die Rede, falls eine Kombination von geriatrietypischen Befunden und Multimorbidität vorliegt.
Von Co-Morbidität ist die Rede, wenn eine Haupterkrankung vorliegt und Begleitkrankheiten als zweitrangig einzustufen sind. Die Krankheitslast kann unterschiedlich verteilt sein.
Was bedeutet Multimorbidität?
In Klinik und Pflege spielt Multimorbidität längst eine zentrale Rolle. So zeigt eine Studie der Universitätsklinik Zürich, dass bei stationär aufgenommenen Patienten im Durchschnitt bis zu sieben unterschiedliche Diagnosen aktiv sind. Durch Patientenwünsche und diverse Therapieempfehlungen entsteht eine komplexe Herausforderung, die es mit Blick auf den Erhalt von Lebensqualität zu wahren gilt. Die Herausforderungen für Patienten, Angehörige, Ärzte und Pflegekräfte dürfen angesichts der Komplexität nicht getrennt, sondern immer als Ganzes betrachtet werden.
Zu den häufigsten Diagnosen bzw. Krankheiten ab dem 65. Lebensjahr im Sinne der Multimorbidität zählen:
- Hypertonie (Bluthochdruck)
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Parkinson
- Demenz
- Diabetes Mellitus
- Herzinsuffizienz
- Osteoporose
- Gicht
- Inkontinenz
- Arthrose, häufig in Hüftgelenken oder Knien
Welches ist der häufigste Faktor der Multimorbidität im Alter?
Wusstet Du, dass Lebensalter und Multimorbidität korrelieren? Das bedeutet, dass mit zunehmendem Alter die Anzahl der Krankheiten zunimmt. Ab 50 Jahren sind ca. 50 % der Bevölkerung von einer Krankheit betroffen, ab 65 Jahren sind es laut Statistik zwei. Daher gelten die meisten Menschen ab 65 Jahren formal als multimorbid. Auf der anderen Seite gibt es viele positive Beispiele von fit gebliebenen Menschen: Die Gene, eine gesunde Lebensführung und medizinische Fortschritte erlauben es immer mehr Menschen, bis in das hohe Alter mobil und selbstbestimmt zu sein. Bei einer individuell abgestimmten Behandlung der vorliegenden Erkrankungen lässt sich Lebensqualität gezielt erhalten.
Übergewicht als Risikofaktor
Seit vielen Jahren ist bekannt, dass Übergewicht ein bedeutender Risikofaktor für zahlreiche chronische Erkrankungen mit zunehmendem Lebensalter ist. Eine Studie aus Kanada hat gezeigt, dass bei multimorbiden Patienten in mehr als 30 % der Fälle Übergewicht vorlag. Du kannst das an dieser Stelle aber positiv für Dich umdeuten: Ein gesunder und bewegter Lebenswandel ist ein aktives Mittel, um das Risiko für zahlreiche chronische Erkrankungen deutlich zu senken.
Gut zu wissen:
In der Medizin ist bekannt, dass sich Multimorbidität oft mit metabolischen, kardiovaskulären, neuropsychiatrischen, muskuloskelettalen, psychischen sowie psychosomatischen Krankheitsbildern zeigt. Je mehr Beschwerden gleichzeitig vorliegen, desto herausfordernder wird die gezielte Behandlung.
Nebenwirkungen von Medikamenten als Herausforderung
Eine Herausforderung, die viele Menschen aus ihrem Lebensalltag nur allzu gut kennen, sind Nebenwirkungen von Medikamenten. Je mehr Medikamente gleichzeitig einzunehmen sind, desto wahrscheinlicher sind Beschwerden durch Nebenwirkungen. Diese stellen eine weitere Herausforderung für Betroffene, Ärzte und Pflegekräfte dar.
Welche Folgen hat eine Multimorbidität?
Die Berliner Altersstudie zeigt uns, dass Menschen in Deutschland über 70 Jahre mit Multimorbidität im Schnitt mehr als drei Medikamente pro Tag einnehmen müssen. Bei mehr als einem Drittel sind es sogar mehr als fünf und bis zu acht unterschiedliche Medikamente. Neben- und Wechselwirkungen sind angesichts dessen immer wieder die Folge, mit der Betroffene und auch Pflegekräfte sich auseinandersetzen müssen. Letztlich kann dadurch die Lebensqualität eingeschränkt werden, da sich Symptome und Ursachen überlappen und kaum noch eine Abgrenzung möglich erscheint.
Was bedeutet Multimorbidität im Alter?
Eine nicht zu vernachlässigende Folge sind mentale Gesundheitsstörungen – allen voran Depressionen. Je mehr Krankheiten vorliegen, desto größer ist das Risiko für Depressionen. Insofern sollte bei einer ganzheitlichen Behandlung multimorbider Symptome immer auch die mentale Gesundheit Berücksichtigung finden – denn diese ist ein wesentlicher Schlüssel für Lebensqualität.
Für funktionale Bewegungseinschränkungen gibt es mittlerweile praktische Elektrorollstühle, Treppenlifte oder Elektromobile, die zuverlässige Lösungen sind, um selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden leben zu können.
Multimorbidität: psychische Folgen
Zu denken ist auch an die sozialen Dimensionen. Angehörige sehen sich ebenso wie Betroffene mit zahlreichen Hürden im Gesundheitssystem konfrontiert. Facharzttermine lassen oft lange auf sich warten, die Vernetzung und der Informationsaustausch ist immer noch nicht ideal. Das könnte sich aber ab 2025 durch die Einführung der elektronischen Patientenakte nachhaltig verbessern. Auch der Zugang zu Fördermitteln und abgelehnte Anträge der Krankenkasse für die Zahlungsübernahme machen Betroffenen das Leben nicht ganz so leicht.
Was bedeutet Multimorbidität in der Pflege? Lösungsansätze
Wie bereits angedeutet, stellt Multimorbidität komplexe Anforderungen an das Gesundheitssystem, dessen Hauptziel eine auf Lebensqualität abzielende Versorgung sein muss. Durch das Zusammenspiel von medizinischen, emotionalen, sozialen und organisatorischen Herausforderungen ist ein ganzheitlicher Pflegeansatz notwendig, um den Bedürfnissen eines jeden Betroffenen gerecht werden zu können. Personal- und chronischer Zeitmangel in der Pflege sind freilich keine guten Voraussetzungen für einen ganzheitlichen Pflegeansatz, zumal auch der Umgang mit Betroffenen sowie deren Angehörigen nicht immer leicht ist.
Chronic Care Modell – Ressourcen bestmöglich einsetzen
In der Pflegewissenschaft hat das sogenannte Chronic Care Modell in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen: Im Mittelpunkt stehen dabei eine koordinierte Therapie durch Mediziner und Pflegefachkräfte, wozu die vorhandenen Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden müssen.
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Die ausbaufähige Digitalisierung im Gesundheitswesen sollte in den kommenden Jahren viele Potenziale nutzbar machen. Ein Beispiel: Immer mehr internetaffine Menschen der Altersgruppe 60+ nutzen mittlerweile Apps wie Doctolib, um Arzttermine schnell zu vereinbaren. Dadurch sparen Arztpraxen wertvolle Ressourcen, die gezielt zur Optimierung des Praxismanagements genutzt werden können. Ein Schlüssel für das Erreichen individueller Behandlungsziele wird in der Koordination, Kommunikation und Dokumentation von Befunden sowie der Medikation liegen.
Zusammenfassung & Ausblick: Herausforderungen in der Pflege
Die Zahlen und Fakten aus diesem Artikel haben Dir vor allem eines gezeigt: Jetzt schon darf Multimorbidität im Alter nicht als Ausnahme, sondern eher als Regelfall gelten – dies in der Zukunft noch viel stärker. Neben Empathie und Fachkompetenz der Pflegekräfte wird es auch auf die gezielte Einbindung von Angehörigen ankommen, um das Hauptziel Lebensqualität bestmöglich zu erreichen. In ihren praxisbezogenen Strategieempfehlungen weist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für eine adäquate Versorgung multimorbider Patienten u. a. auf folgendes hin:
- die notwendige Sensibilisierung des Gesundheitspersonals
- die Stabilisierung des Gesundheitssystems
- eine lokale Prioritätensetzung
- die Optimierung von gezielter Weiterbildung im Pflegesektor
- und die Würdigung von Best Practice Beispielen
Fazit
Nach der Konfrontation mit vielen Krankheiten und Herausforderungen im Alter möchten wir den Artikel mit einer positiven Botschaft beenden. Ist es nicht schön, wenn Du Dich mit 60 wie 40 fühlst? Laut Statistischem Bundesamt bewerten 42 % der Deutschen ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder gut, bei den über 85-Jährigen sind es noch gut 20 %. Denk immer daran: Du hast Deine Gesundheit zu großen Teilen selbst in der Hand, um zu dieser großen Gruppe zu gehören. Schließlich ist eine längere Lebenserwartung als Einladung zu sehen, das Leben im Ruhestand länger denn je in vollen Zügen zu genießen!